Der weiße L60

In der Ausgabe 1/2024 beschäftigen wir uns mit ganz speziellen Ausführungen der W50 und L60 mit dem Fernfahrerhaus. Einer von drei L60 war nach der Wende einige Jahre bei der Wünsdorfer Werkstätten gGmbH im Einsatz. Raimund Dinter, Fahrer und Fuhrparkleiter, hat seine Erinnerungen und Erlebnisse mit dem weißen L60 für uns zu Papier gebracht.

Mehr zur gesamten Geschichte im aktuellen Heft ab dem 15.03.2024.

Ich möchte voranstellen, dass die von mir geschilderten Erinnerungen und Erlebnisse mit diesem Fahrzeug fast 25 Jahre zurück liegen. Es existiert auch nur ein Foto des „Weißen“, mit mir als Gabelstaplerfahrer beim Beladen des Lkw. Deshalb soll es auch keine Dokumentation sein, sondern vorwiegend als „Gedächtnisprotokoll“ betrachtet werden.

Zur damaligen Zeit, in den 1990er Jahren und bis 2008, war ich in einer „Werkstatt für Behinderte“ (So hieß es damals.) als Fahrdienst- und Fuhrparkleiter, aber auch Kraftfahrer tätig. Unser Geschäftsführer war ein äußerst weitsichtiger und agiler Mann, immer bemüht, neue Kontakte und damit neue Aufträge heranzuholen, was sehr wichtig war.

So ergab sich auch u.a. die Zusammenarbeit mit der Daimler-Benz-Niederlassung in Berlin-Marienfelde. Anfangs wurden die Ersatzteile als Roh-Ware in Gitterboxen durch eine Spedition per Lkw angeliefert, die dann von den Werkstatt-Mitarbeitern unter akribischer Aufsicht des Gruppenleiters verpackt, mit Banderolen versehen, wieder in die Gitterboxen geladen und von der Spedition abgeholt wurden. Der Transport war sehr kostspielig. Deshalb überlegte der Chef gemeinsam mit dem Arbeitsvorbereiter, wie man das ändern kann.


Es wurden Kontakte zum ehemaligen IFA-Automobilwerk Ludwigsfelde hergestellt und so ergab es sich, dass die dortige Lehrwerkstatt einen noch vorhandenen, aber zurzeit nicht fahrbereiten L60 mit Doppelkabine als „Sonderprojekt“ für unsere Werkstatt wieder aufbaute.

Am letzten Arbeitstag vor Weihnachten 1997 war es soweit. Der Lkw sollte im Rahmen einer Feierstunde an die Werkstatt übergeben werden. Unser Chef fuhr mit einem Kollegen, der früher mal dort im Autowerk gearbeitet hatte, und mir hin zur Lehrwerkstatt. Während der Feierstunde hatte sich urplötzlich Blitzeis gebildet. Auf unsere Bitte, den Lkw später abzuholen, sagte man uns, das ginge nicht, das Gelände wird abgeschlossen, es ist niemand mehr da, und der Lkw würde unbeaufsichtigt sein.

Es half nichts. Ich wurde kurz eingewiesen und konnte nicht einmal eine Bremsprobe machen, so spiegelglatt war es. Mit 10-20 km/h zuckelten wir los. Mein Beifahrer starrte ungläubig auf die Fahrbahn, rauchte eine Zigarette nach der anderen, mir selbst lief der (Angst-)Schweiß am Körper herunter. Nirgendwo war gestreut. An jeder Kreuzung zitterte ich, ob ich auch zum Stehen kommen würde.

Für die knapp 30 km hatten wir zwei Stunden gebraucht. Angekommen, fielen wir uns in die Arme – dankbar, dass wir heil angekommen waren. Soweit zum Start dieses Fahrzeugs in der Werkstatt.

Das nächste Kapitel, Anfang des nächsten Jahres, war nahezu beschämend beziehungsweise mir sehr peinlich. Die „Jungfernfahrt“ nach Berlin-Marienfelde zu Daimler-Benz legten wir, mein Beifahrer und ich waren auch schon vorher ein eingespieltes Team, recht zügig zurück. Aber als wir auf das Werksgelände fuhren, mit dem für den L60 typischen „Heul-Ton“ (vom Getriebe), drehten sich alle nach dem Lkw um, mit Blicken, als kämen wir von einem anderen Stern! Zwischen den anderen Daimler, MAN, Scania-Lkws schlängelten wir uns durch. Aus dem Auspuff kam auch mehr als nur heiße Luft. Als wir an der Halle ankamen, wo wir dann beladen werden sollten, trieben die Staplerfahrer im wahrsten Sinne des Wortes ihren Spott mit uns. „Watt is’n dit für’n Honecker-Auto?“ Und amüsierten sich dabei. „Zwee Paletten, und die Karre bricht zusammen...“ Und so weiter. Dazu kam noch, dass wir keine Doppel-Paletten laden konnten, sondern sie mussten abgestapelt werden, was Ladezeit kostete. Der L60 konnte sowieso nur fünf Tonnen laden.

Ich war jedesmal heilfroh, wenn wir endlich das Werksgelände verlassen konnten.

Es kam noch schlimmer, als wir nach einiger Zeit einen alten HW 60-Anhänger auftrieben. Nach dem Wiederaufbau fuhren wir mit diesem Hängerzug Richtung Daimler-Benz - froh, nun 10 Tonnen laden zu können.

Dort angekommen, ging der Spott weiter: „Watt is denn dit für’n Hundewagen – eene Palette laden wa?“

Geduldig und tapfer ertrugen wir auch diese, Schmähungen‘, ging es doch um eine wertvolle Arbeit für unsere Leute. Nach und nach legten sich diese Kommentare. Es entstand eine fast freundschaftliche Zusammenarbeit. Natürlich mussten die Arbeiten ganz korrekt und akkurat ausgeführt werden, denn die verpackten Ersatzteile gingen europaweit auf die Reise.



Eine Auszeichnung für unsere Werkstattleute war, dass manchmal jeweils zwei von ihnen, dank der Doppelkabine, im hinteren Teil des Fahrerhauses mitfahren durften.

Lief unser L60 eine ganze Zeitlang sehr zuverlässig, stellten sich doch nach und nach einige „Macken“ ein. Es kam dann vor, dass wir liegenblieben, selbstverständlich‘ auch in (West-)Berlin mitten auf der Kreuzung. Ich kann aus heutiger Sicht nicht mehr genau sagen, was die verschiedenen Ursachen waren. Zumal auch andere Fahrer zum Einsatz kamen. Der Lkw-Abschleppdienst aus Waßmannsdorf kannte uns dann schon . . .

Ein Ereignis aber ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben. Es hätte mich um Haaresbreite sogar mein Leben gekostet!!

Um an den Motor zu kommen, musste das Fahrerhaus hydraulisch hochgepumpt und dann gesichert werden. Wohlgemerkt hatten wir einen L60 mit Doppelkabine. Es war jedes Mal eine Tortur und Quälerei, diesen Koloss hochzubekommen und zu sichern.

Einmal musste ich unter Zeitdruck an die Dieselpumpe ran. Also hoch den Koloss, aber er wollte einfach nicht einrasten. Schnell eine provisorische Sicherung installiert und ran an die Pumpe. Urplötzlich schrie jemand: „Das Fahrerhaus kommt runter!“ Ich weiß bis heute nicht, wie ich blitzschnell meinen Oberkörper herausbekommen habe, bevor das Fahrerhaus aufschlug. Das wär’s dann mit mir gewesen! Im Nachhinein war die ganze Aktion natürlich absolut leichtsinnig und fahrlässig!

Die Sache hatte auch ein Nachspiel. Ich hatte mich bei meiner „Rettungsaktion“ mächtig an Schulter und Arm geprellt und aufgeschrammt. Das kam dem Arbeitsschutzobmann zu Ohren, und so musste ich wohl oder übel zum „Durchgangsarzt“ zur Untersuchung. Ich schilderte mein Missgeschick mit den Worten: „Bin mit einem großen Schraubenschlüssel abgerutscht und dabei am Rahmen langgeschrammt.“ So wurde es mir anscheinend auch geglaubt und protokolliert. Gott sei Dank. Man stelle sich vor, ich hätte die „Wahrheit“ preisgegeben. Mein Chef war an dem Tag nicht anwesend. Er weiß es bis heute nicht . . .

Ich muss aber dazu sagen, dass davon nichts zurückgeblieben ist – abgesehen von dem „Schock“, der noch eine Weile anhielt.

Wenn es nicht eine benachbarte Lkw-Werkstatt mit einem äußerst verständnisvollen und kompetenten Meister und Schlossern gegeben hätte, dann hätten wir uns wohl schon früher von unserem liebgewonnenen, aber nun „teuren“ L60 trennen müssen.

Aber eines Tages war es soweit. Wir hatten zwei sehr pfiffige und mitunter etwas „windige“ Kollegen unter uns. Als beschlossen wurde, den Hängerzug beziehungsweise den L60 zu veräußern, traten sie in Aktion. Auf „normalem“ Weg wäre er möglicherweise verschrottet worden, denn damals wollte ihn keiner haben.

Ich kann leider nicht mehr mit Sicherheit sagen, wo er abgeblieben ist. Er ist wohl auf ein Schiff Richtung Süden verladen worden. Bestimmt wissen andere darüber besser Bescheid.

Einige Zeit später habe ich dann für die Werkstatt einen gebrauchten Mercedes SK Hängerzug gekauft, mit einer stolzen Länge von fast 19 Metern, der dann auch „ordentlich“ beladen werden konnte.

Damit hatten sich der Spott und die Häme bei Daimler-Benz Berlin endgültig erledigt.


Autor: Raimund Dinter

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